Selbstverteidigung zur Gewaltprävention

Bei der Selbstverteidigung geht es weniger um Techniken zur körperlichen Abwehr von Personen, die die eigene körperliche Unversehrtheit bedrohen, als vielmehr um den ganzheitlichen Umgang mit Situationen, die die Kinder oder Jugendlichen als unangenehm oder bedrohlich erachten.

Im Jahr 2016 kam es in Deutschland zu 193.542 polizeilich registrierten Gewaltverbrechen. Dies ist gleichbedeutend mit einer Quote von etwa 235 Gewaltverbrechen pro 100.000 Einwohner*innen im Jahr. Zu diesen Gewaltverbrechen zählen Mord beziehungsweise Totschlag, Raub, Körperverletzungsdelikte und Vergewaltigung.1 Im Zuge dieser Verbrechen kam es zu 150.449 Opfern versuchter oder vollendeter Delikte im Kindes- und Jugendalter.2 Dabei handelt es sich lediglich um die polizeilich erfassten Fälle, die sogenannte Dunkelziffer wird bedeutend höher geschätzt.

Mobbing, sexuelle Belästigung und verbale Gewalt in Schulen sind in der Zahl der registrierten Gewaltverbrechen nicht enthalten. In der PISA-Studie von 2015 gaben jeder sechste Schüler und jede sechste Schülerin an, mehrmals im Monat Opfer von Mobbing zu sein.3 Im Jahr 2016 verzeichnete die Polizeiliche Kriminalstatistik in Deutschland etwa 12.000 Ermittlungsverfahren auf Grund von sexuellen Kindesmissbrauchs und auch hier wird von einem weit größeren Dunkelfeld ausgegangen.4 Die Studienlage zu sexuellen Übergriffen im Kindes- und Jugendalter, insbesondere untereinander, ist sehr heterogen, was auf verschiedene Definitionen und das dem Problem immanente Dunkelfeld zurückgeführt wird. Innerhalb repräsentativer Metaanalysen gaben durchschnittlich 7,4 beziehungsweise 7,6 Prozent der männlichen und 18,0 beziehungsweise 19,2 Prozent der weiblichen Befragten an, vor ihrem 18. Geburtstag sexualisierte Gewalt erfahren zu haben.5

Die gute Nachricht: Gewaltdelikte allgemein und tätliche Auseinandersetzungen im schulischen Kontext sind nach offiziellen Zahlen rückläufig.1 Ein Großteil der Kinder und Jugendlichen wird, glücklicherweise, vermutlich aufwachsen, ohne Opfer von Gewalt zu werden. Dennoch können Kinder und Jugendliche mit Situationen konfrontiert werden, in denen selbst Erwachsene überfordert wären und nicht souverän reagieren könnten. Hier setzen Konzepte von Selbstbehauptung oder in körperlich bedrohlicheren Situationen von Selbstverteidigung an. Ziel ist, die Kinder zu befähigen, ihre Grenzen zu kennen, diese zu kommunizieren und das Einhalten der persönlichen Grenzen durch das Gegenüber durchsetzen zu können. 

Bei Selbstverteidigung und Selbstbehauptung geht es nicht ausschließlich um das Erlernen von speziellen Griffen und Techniken, mit denen man sich aus gefahrvollen Situationen befreien kann, sondern insbesondere um den Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls und Selbstvertrauens. Kinder und Jugendliche lernen dabei, ihre eigenen Grenzen festzulegen und aufzuzeigen, etwa welche Berührungen durch Personen für sie in Ordnung sind und welche nicht, gleichzeitig aber auch die Grenzen anderer zu respektieren. Es wird ein Bewusstsein für den eigenen Körper vermittelt, ebenso für die Fähigkeit, selbst bestimmen zu können, was man möchte und was nicht. Zentrales Element ist auch die Ermutigung, sich stets Hilfe zu suchen und sich erwachsenen Personen anzuvertrauen, weil Gefahrenlagen oft nur so beendet werden können.6 

Das Konzept der Selbstbehauptung setzt auf die Körpersprache der Kinder und Jugendlichen. Sie lernen, potenzielle Gefahrensituationen zu erkennen und im Optimalfall zu vermeiden. Außerdem in akuten Gefahrensituationen nach Möglichkeit nicht verschüchtert wegzusehen, sondern aufrecht zu stehen und potenziellen Angreifer*innen in die Augen zu sehen, durch Körpersprache zu vermitteln, dass sie nicht wehrlos sind. Gleichzeitig lernen und üben sie zu schreien, um Aufmerksamkeit zu erregen und potenzielle Angreifer*innen durch die Lautstärke zu vertreiben.6 Es geht um das Unterbinden einer Gefahrenlage durch den Einsatz von Sprache, durch den Gewinn von Abstand oder das Einfordern von Hilfe. So sollen verbale, aber vor allem körperliche Übergriffe schon vor der Entstehung unterbunden werden. Erst wenn es trotz dieser Maßnahmen zu körperlichen Übergriffen kommt, wird auf Techniken der Selbstverteidigung zum Schutz der eigenen Unversehrtheit und zur Abwehr der Angreifer*innen zurückgegriffen.7 Bei der Selbstverteidigung werden den Kindern und Jugendlichen Techniken vermittelt, die häufig auf dem japanischen Ju-Jutsu basieren. Ju-Jutsu erlaubt es, sich auch gegen körperlich überlegene Gegner*innen zu behaupten. Mit Hilfe von Hebeltechniken und Druckpunkten ist es beispielsweise möglich, sich von dem Griff eines stärkeren Gegenübers zu lösen und so Abstand zu gewinnen.6 

Zusammenfassend geht es bei Selbstverteidigung weniger um Techniken zur körperlichen Abwehr von Personen, die die eigene körperliche Unversehrtheit bedrohen, als vielmehr um den ganzheitlichen Umgang mit Situationen, die die Kinder oder Jugendlichen als unangenehm oder bedrohlich erachten. Körperliche Selbstverteidigung stellt dabei nur das letzte Mittel dar, um eine Bedrohungssituation abzuwenden. Ziel ist es, den Heranwachsenden durch eine Stärkung des Selbstbewusstseins und durch Handlungsanweisungen die Möglichkeit zu geben, bedrohliche Situationen bereits zu verhindern oder diesen zu entkommen, bevor der Einsatz körperlicher Mittel notwendig werden würde. Dabei ist es für die Kinder jedoch wichtig, ein Bewusstsein dafür zu haben, dass sie in der Lage sind, sich im Notfall zu wehren und dem Gegenüber nicht vollends schutzlos ausgeliefert zu sein.7 Durch die Vermittlung von Respekt für die Grenzen anderer werden die Kinder für den ausschließlichen Gebrauch von Griffen und Techniken zu defensiven Zwecken im Rahmen der Selbstverteidigung sensibilisiert. Das vermittelte Wissen stärkt Selbstvertrauen und Sicherheitsgefühl der Kinder und Jugendlichen.6

1Pfeiffer, C., Baier, D., Kliem, S. (2018). Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland – Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer. Zürich: Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften – Institut für Delinquenz und Kriminalprävention. 

2Bundeskriminalamt (2016). Polizeiliche Kriminalstatistik – Bundesrepublik Deutschland – Jahrbuch 2016 – Band 2 – Opfer. Wiesbaden: Bundeskriminalamt Abteilung IZ, Kriminalistisches Institut. 

3OECD (2017). Programme for International Student Assessment (PISA) Results from PISA 2015 Students´ Well-Being – Country Note Germany. OECD.

4Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (2017). Fakten und Zahlen zu sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen. https://beauftragter-missbrauch.de/fileadmin/Content/pdf/Pressemitteilungen/2017/10_Oktober/05/6_Fact_Sheet_Zahlen_Ausmass_sex_Gewalt.pdf (Zugriff: 10.10.2021). 

5Deutsches Jugendinstitut e.V., Hrsg. (2011). Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen – Abschlussbericht. München: Deutsches Jugendinstitut e.V. Abteilung Familie und Familienpolitik. 

6Polizei Dein Partner – Gewerkschaft der Polizei – Das Präventionsportal. Selbstverteidigung für Kinder – Sich im Ernstfall wehren können. Verlag Deutsche Polizeiliteratur. https://www.polizei-dein-partner.de/themen/sexueller-missbrauch/detailansicht-sexueller-missbrauch/artikel/selbstverteidigung-fuer-kinder.html (Zugriff: 10.10.2021). 

7Heimann, R., Fritzsche, J., Hrsg. (2020). Gewaltprävention in Erziehung, Schule und Verein. Wiesbaden: Springer Fachmedien GmbH.